Wie nehmen Menschen den Renteneintritt wahr?
Neben der Einschulung strukturiert wahrscheinlich kein Ereignis die Lebensläufe der Menschen so flächendeckend wie der Renteneintritt.
Während viele den Ruhestand als Zeit der Entschleunigung und Zwanglosigkeit sehnsüchtig erwarten, sehen manche darin einen erzwungenen und gefürchteten Einschnitt in das eigene Leben.
Welche Faktoren aber entscheiden darüber, ob der Renteneintritt und Übergang zum Ruhestand ein Traum oder ein Alptraum wird? Antworten auf diese Frage lassen sich in der aktuellen Arbeit* von Markus Holler und Constantin Wiegel vom Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES) finden.
Die Gesundheit, die familiäre Situation oder das Einkommen spielen für die persönliche Präferenz, früher oder später in Rente zu gehen, eine gewichtige Rolle. Aber wie sich diese Faktoren auswirken, ist häufig nicht ganz klar. So fällt die Entscheidung, den Ruhestand anzutreten, womöglich leichter, wenn man genug Einkommen hat, um auf das Gehalt aus der Erwerbstätigkeit zu verzichten. Ein hohes Einkommen bedeutet aber auch, dass man auf besonders viel Geld verzichtet, wenn man in Rente geht.
Enge Korrelation zur Arbeitsmarktlage
Auch will man der beschwerlichen Erwerbstätigkeit eher entfliehen, je schlechter der Gesundheitszustand ist. Gleichzeitig stellten schon in den 1950ern Karl-Wilhelm Kindel und Eckart Schackow fest, dass die Anzahl der Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen aus der Erwerbsarbeit ausscheiden, erstaunlich eng mit der Lage des Arbeitsmarktes korreliert und viel weniger mit den Arbeitsbedingungen in verschiedenen Branchen.
Entscheidender als die individuellen Wünsche sind in der Tat häufig die Rahmenbedingungen des Betriebs und des Arbeitsmarktes. Das kann neben der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und tariflichen Vereinbarungen auch zum Beispiel der sanfte Druck einer lukrativen Abfindung oder einer altersfeindlichen Umgebung sein, der Menschen veranlasst, vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze aus dem Betrieb auszuscheiden.
Vielfältige Gründe für vorzeitigen Renteneintritt
Um herauszufinden, was die Menschen heutzutage wirklich motiviert oder davon abhält, in Rente zu gehen, befragten Holler und Wiegel rund 1.500 Personen zu ihrem bevorstehenden oder bereits vollzogenen Eintritt in den Ruhestand. Unter den knapp 500, die vorzeitig in den Ruhestand gegangen sind, gibt mehr als die Hälfte gesundheitliche Gründe und knapp ein Drittel die anstrengenden Arbeitsbedingungen als Motivation an. Immerhin 16 Prozent der Befragten fühlten sich als Arbeitskraft nicht mehr gefragt. 38 Prozent wollen mehr Zeit für die Familie und 37 Prozent mehr Zeit für private Interessen haben.
Immerhin 35 Prozent sagen sogar, dass es schlicht keine finanzielle Notwendigkeit zum Weiterarbeiten gegeben habe. Damit bestätigen die Zahlen wahrscheinlich das, was viele intuitiv über die Motivation der Menschen hinsichtlich ihrer Rente gedacht haben. Doch dies ist nur eine Durchschnittsbetrachtung, denn die verschiedenen Beweggründe wirken nicht unabhängig voneinander.
Überwiegend positive Einschätzung
Unter allen Befragten bewerten 70 Prozent den Renteneintritt und den Übergang in die neue Lebensphase insgesamt positiv, 23 Prozent neutral und nur 7 Prozent negativ. Das Bild zieht sich auch durch alle einzelnen Lebensbereiche außer den Finanzen. Hier sehen 44 Prozent keine Veränderungen, 31 Prozent Verschlechterungen und nur 28 Prozent Verbesserungen ihrer Lebenssituation. Wer allerdings positive Erwartungen an die finanzielle Lage in der Rente hat oder diesbezüglich positive Erfahrungen gemacht hat, weist wahrscheinlich auch positive Erfahrungen oder Erwartungen in allen anderen Lebensbereichen auf.
Eine optimistische Gruppe von rund 18 Prozent der Befragten sieht den Altersübergang in jedem Lebensbereich ziemlich positiv. Eine pessimistische Gruppe mit einem Umfang von ganzen 28 Prozent der Befragten aber sieht ihn in jeder Hinsicht negativ. Motive wie Selbstverwirklichung im Ehrenamt spielen bei 32 Prozent der optimistischen Gruppe eine Rolle. Auf nur sechs Prozent trifft dies in der pessimistischen Gruppe derer, die vorzeitig in Ruhestand gegangen sind, zu.
Optimisten sehen wenig finanzielle Zwänge
Über die Hälfte der „Optimisten“ sieht keine finanzielle Notwendigkeit zum Weiterarbeiten. Das gilt dagegen gerade einmal für 26 Prozent der „Pessimisten“. Diesen wurde allerdings in 23 Prozent der Fälle vom Betrieb gekündigt. Bei 18 Prozent war ihre Arbeitskraft nicht mehr gefragt. Das ist deutlich häufiger als in der optimistischen Gruppe (18 bzw. 12 Prozent). Dass Menschen mit hohem Sozialstatus in der optimistischen Gruppe insgesamt einen doppelt so großen Anteil haben als solche mit niedrigem, in der pessimistischen Gruppe hingegen einen rund halb so großen, überrascht kaum.
Die Entscheidung der einen wird also von Möglichkeiten, die der anderen von Notwendigkeiten geprägt. Das zeigt sich auch bei der Gesundheit. Je schlechter diese ist, desto schlechter sind die Erwartungen an den Ruhestand. Nur drei Prozent der Menschen mit schlechter Gesundheit (und 22 Prozent derer mit guter Gesundheit) haben ein durchweg positives Bild vom Ruhestand insgesamt. Die Hoffnung oder die Erfahrung, dass das Leben sich insgesamt verbessert, wenn die Belastung durch Erwerbsarbeit wegfällt, scheint für Menschen mit schlechter Gesundheit keine entscheidende Rolle zu spielen. Das mag erst einmal überraschend klingen. Es passt aber in die übrige Befundlage, dass der Blick auf die eigene Gegenwart und Zukunft umso düsterer ausfällt, je weniger selbstbestimmt man diese aufgrund gesundheitlicher Zwänge gestalten kann.
In der Rückschau mildere Beurteilung
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Vor dem Renteneintritt sehen gerade einmal knapp 15 Prozent der Befragten den Altersübergang positiv. Nach dem Renteneintritt bewerten ihn immerhin 25 Prozent als positiv. Vielleicht ist mit Abstand betrachtet also alles gar nicht so schlimm. Den milderen Blick auf den eigenen Renteneintritt könnte aber das sogenannte Wohlbefindens-Paradox erklären. Je älter wir sind, desto zufriedener sind wir mit dem Leben, auch wenn die objektiven Umstände sich tendenziell verschlechtern.
Doch auch hier muss man differenzieren. Dieser positivere Blick im Fall des Renteneintritts findet sich fast ausschließlich bei Männern. Während der Anteil von Frauen, die den Übergang in die Rente kritisch sehen, mit 33 Prozent vor und nach Verrentung gleichbleibt. Eine naheliegende Erklärung ist, dass diese vor allem aufgrund ihrer Erwerbsbiografien häufig geringere Renteneinkommen und einen niedrigeren Sozialstatus aufweisen. Das konnte diese Studie aber nicht klären.
Der Blick auf den Mittelwert genügt nicht
Insgesamt gibt uns diese Erhebung vor allem zwei wichtige Erkenntnisse mit auf den Weg. Erstens ist unabdingbar, bei politischen Maßnahmen die Auswirkungen auf verschiedene Bevölkerungsschichten und nicht nur auf den Mittelwert zu betrachten. Zweitens zeigt sie, wie wichtig die individuelle Selbstbestimmung ist. Die dafür nötigen materiellen, sozialen und gesundheitlichen Rahmenbedingungen zu schaffen ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Deren Erfolg stellt sich auch, aber nicht nur im Rentensystem dar. Wenn uns dies gelingt, sind die Leute zufriedener und glücklicher. Sie leben länger und sie arbeiten länger – wenn sie denn können und wollen.
*Holler, Markus/Wiegel, Constantin (2020): Der Altersübergang aus Sicht von Beschäftigten und Personen im Ruhestand, in: Stadelmacher, Stephanie/Schneider, Werner (Hg.): Lebenswirklichkeiten des Alter(n)s. Vielfalt, Heterogenität, Ungleichheit.
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