Im Spagat zwischen Pflege und Beruf
Die bundesweit stark beachtete „Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ hat die hessische Landesregierung verabschiedet und namhafte Firmen zur Mitwirkung an dieser Initiative gewonnen: Was unternehmen Arbeitgeber, damit pflegende Beschäftigte sich in der doppelten Verpflichtung nicht aufreiben? Wie reagiert die Personalpolitik auf die zunehmende Pflegebedürftigkeit von Angehörigen der Arbeitnehmer? Über diese und weitere Fragen gab am 25. Februar 2015 in der DIA-Lounge in Berlin der hessische Sozialminister Stefan Grüttner Auskunft.
„Die größte Kulturleistung eines Volkes sind zufriedene Alte“, zitierte DIA-Sprecher Dieter Weirich auf dem Podium eingangs ein Credo aus Japan. Ein Land, in dem „Verständnis und Verehrung für die ältere Generation größer sind als hierzulande“, wie er befand. Um dann den Bogen zum Thema des Abends zu schlagen: Pflege ist in Deutschland nach wie vor hauptsächlich Familiensache und die Doppelbelastung der berufstätigen Angehörigen enorm. Mit dem Pflegestärkungsgesetz und dem Familienpflegezeitgesetz hat die Politik inzwischen einige neue Rahmenbedingungen gesetzt, die Verbesserungen und Erleichterungen nicht nur für Pflegebedürftige, sondern auch für ihre Angehörigen bringen sollen. Es gibt bei Eintritt des Pflegefalls in der Familie einen Anspruch auf zehntägige bezahlte Freistellung und auf eine sechsmonatige Freistellung vom Arbeitsverhältnis sowie die Möglichkeit, über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren die Arbeitszeit auf 15 Wochenstunden zu reduzieren.
Warum dann extra noch eine Charta – wie das Land Hessen sie jetzt mit Partnern von privaten und öffentlichen Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen und kommunalen Ämtern entwickelt hat? Ob er dem Frieden nicht traue und davon ausgehe, dass die Rechtsansprüche von den Betroffenen nicht wahrgenommen würden?, wollte DIA-Sprecher Klaus Morgenstern von seinem Podiumsgast aus Hessen wissen. Grüttners Antwort: Die Charta und ihre Träger verstehen sich als Teil und zugleich Auslöser eines Prozesses, der zunehmend in Gang kommt – nämlich der Sensibilisierung der Unternehmen und Beschäftigten für das Thema Pflege. Bis zu dem Moment, in dem die gesetzlichen Möglichkeiten von Betroffenen in Anspruch genommen werden, sei in der Regel schon relativ viel passiert. „Wir setzen also sehr viel früher als die gesetzlichen Regelungen an, die einen guten Rahmen bilden. Aber das reicht uns nicht“, so der Minister.
Die Gefahr des zweiten Karriereknicks
Es sei einerseits für Beschäftigte wichtig zu wissen, dass sie jenseits gesetzlicher Ansprüche Beratung und auch Hilfestellung durch ihr Unternehmen bekommen, wenn ein familiärer Pflegefall eintritt. Der Politiker führte einige Zahlen dazu an: Derzeit werden in Hessen 150.000 Pflegebedürftige zu Hause betreut, dies zu etwa 70 Prozent durch Frauen, und weitere 50.000 in Pflegeheimen. Ein Drittel derjenigen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause versorgen, sind jünger als 40 Jahre. Sie stehen im Berufsleben und haben oft durch Kindererziehungszeiten schon einmal einen Karriereknick erlebt. Den Unternehmen wolle man andererseits verdeutlichen, über welche wertvollen Ressourcen sie mit diesen Fachkräften verfügen, so Grüttner. Sie müssten aufpassen, dass sie diese Ressource „nicht verspielen“. Um sie im Betrieb zu halten, müsse man diesen Fachkräften im Pflegefall von Angehörigen auch entsprechende Angebote unterbreiten.
Unterstützung für den Mittelstand
Was kann denn ein Mittelständler von den Initiatoren der Charta an Unterstützung erwarten?, hakte Morgenstern nach und erfuhr: Nachlesen kann man das in der gleichnamigen „Fibel“ der Charta „Beruf und Pflege vereinbaren“. Dort sind die besten Beispiele dokumentiert. Das können Gleitzeitmodelle oder Arbeitszeitkonten sein oder Telearbeit, die Umstrukturierung der Arbeitsorganisation, flexible Arbeitszeiten oder auch das kurzfristige Verschieben des Arbeitseinsatzes. Aber auch Kooperationen des Unternehmens mit ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen können hilfreich sein. All das ist jeweils abhängig von der Größe des Betriebs. Deshalb seien auch unterschiedliche Lösungsansätze nötig. Auch Schulungen werden angeboten mit dem Ziel, im Unternehmen einen Pflege-Guide zu etablieren. Als innerbetrieblicher Ansprechpartner kümmert er sich um Angehörige, die plötzlich mit einem Pflegefall konfrontiert sind. Mittlerweile ist Anzahl dieser Pflege-Lotsen in hessischen Unternehmen dreistellig.
Das Pflegethema im Arbeitsumfeld enttabuisieren
Immer gehe es letztlich auch darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem „die Pflege von Angehörigen kein Tabu mehr ist“. Um welche Dimensionen es sich für den Einzelnen dabei handelt, machte der Sozialminister aus Hessen an folgenden Zahlen deutlich: Im statistischen Durchschnitt leisten pflegende Angehörige demnach rund fünf Stunden Pflegearbeit am Tag, im Schnitt etwa acht Jahre lang. Bisher haben rund 100 Unternehmen mit einer Betriebsgröße von fünf bis 20.000 Mitarbeitern die Charta unterschrieben – als „freiwillige Selbstverpflichtung“. Folglich könne man auch nicht von einer „Einengung“ sprechen. Vielmehr sei dies ein Angebot für Unternehmen, konterte Grüttner gleichzeitig Weirichs Frage nach der Resonanz auf die Charta seitens der Wirtschaft im aktuellen Umfeld von Frauenquote und Mindestlohn.
Interesse aus anderen Bundesländern
Die anschließenden Wortmeldungen aus dem Publikum zeigten die Vielschichtigkeit der Problematik und das breite Spektrum der Bereiche, die damit in Verbindung stehen. Ob nun Barrierefreiheit oder Telemedizin, Mobilität in ländlichen und strukturschwachen Regionen oder Prävention bei Gesundheit und Pflege. Oder auch rechtliche Fragen, die den zeitweiligen Ersatz eines Mitarbeiters in der Pflegezeit betreffen. Interesse an der Charta der Hessen haben Grüttner zufolge inzwischen auch andere Bundesländer bekundet, so zum Beispiel Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
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