Durch eine andere Brille gesehen: Armut in Europa
Über eine treffsichere Kennziffer, mit der Armut festgestellt werden kann, streiten sich die Geister. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW) unternimmt mit einem multidimensionalen Armutsindex einen neuen Anlauf. Er liefert für die Situation in Europa eine treffendere Beschreibung, so das IW.
Um das Ausmaß an Armut in einem Land zu quantifizieren, ziehen die Experten häufig als Größe die relative Einkommensarmut zu Rate. Diese Kennziffer hat ihre Tücken. Die Armutsgefährdungsquote oder der Anteil der Personen, die weniger als 60 Prozent des haushaltsbezogenen Medianeinkommens verdienen, ist vor allem ein spezielles Maß für Einkommensungleichheit. Armut ausschließlich über ein relativ geringes Einkommen zu definieren, greift in der Regel zu kurz.
Das zeigt das Beispiel Griechenland. So stieg in dem Land die relative Einkommensarmut seit 2007 lediglich um 1,3 Prozentpunkte und damit nur wenig mehr als im Durchschnitt der europäischen Länder. Gleichzeitig sank das Medianeinkommen im Zeitraum von 2007 bis 2014 um 30 Prozent. Die Arbeitslosenquote verdreifachte sich. Das zeigt den Schwachpunkt dieser Größe: Geht es allen um gleich viel schlechter, bleibt die relative Einkommenarmutsquote in etwa gleich. Umgekehrt passiert das Gleiche. Steigen die Einkommen gleichmäßig an, dann sinkt die Armut nicht, obwohl es allen besser ergeht als vorher.
Materielle Deprivation als Kriterium
Bei einem anderen Ansatz, der materiellen Deprivation, gilt derjenige als arm, der nur einen unzureichenden Lebensstandard erreicht. Dafür gibt es einen Katalog mit mehreren Kriterien. (Zum Beispiel keine ausreichend beheizte Wohnung, Schwierigkeiten, rechtzeitig die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen zu bezahlen, keine Waschmaschine, kein Telefon etc.) Sind mindestens vier dieser Kriterien erfüllt, besteht nach der Definition der Europäischen Kommission materielle Deprivation.
Die Experten des IW gehen nun noch einen Schritt weiter. Sie schlagen vor, Armut anhand des Mangels an Verwirklichungschancen zu messen. Damit werden die verschiedenen Dimensionen Einkommen, materielle Deprivation, Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohnumfeld und Unterkunft sowie Gesundheit zusammengeführt und in einem multidimensionalen Armutsindex zusammengefasst. Dabei schneiden Norwegen, Schweden und die Schweiz am besten, Bulgarien, Rumänien und Griechenland am schlechtesten ab.
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Das IW hat verschiedene solcher Ansätze durchgespielt. Sie kommen für den europäischen Vergleich durchaus zu ähnlichen Ergebnissen, die sich allerdings klar von dem Ranking nach der relativen Einkommensarmut unterscheiden. Hingegen kommen sie dem subjektiven Empfinden von unzureichendem Einkommen nahe. Diese Ansätze seien daher besser geeignet, Einschränkungen in den Lebensverhältnissen darzustellen. Sie eignen sich zudem auch besser als Zielgröße für eine Politik gegen Armut.
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