Unter dem Schlagwort „Digital Welfare State“ (Digitaler Sozialstaat) wird die neuere Entwicklung diskutiert, die Sozialverwaltung mittels digitaler Technologie auf ein neues Fundament zu stellen. Was aber bedeuten Digitalisierung und Datafizierung für den Sozialstaat?
Mit dem Sozialstaatsprinzip wird grundgesetzlich als Staatsziel verankert, dass der deutsche Staat ein demokratischer und sozialer Bundes- und Rechtsstaat ist: Das gesamte staatliche Handeln hat somit unter dem Gesichtspunkt des Sozialen stattzufinden. Konkret bedeutet dies, dass es zu den Aufgaben des Gesetzgebers zählt, die soziale Gerechtigkeit und Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Als Folge ist nicht nur die Sozialversicherung ein wichtiger Bereich der sozialen Gesetzgebung, sondern stellt ebenso die Finanzierung sozialer Leistungen eine staatliche Aufgabe dar.
Die staatlichen Aufgaben im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Auf Lorenz von Stein gehen wichtige Gedanken zur sozialen Funktion des Verwaltungshandelns zurück: Er betonte den sozialen Auftrag von Staat, Verwaltung und Recht für die persönliche Entfaltung jedes Einzelnen. Es ist seine Vision eines Sozialstaats, die im heutigen Sozialstaatsprinzip fortwirkt. Den Grundstein für die beitragsfinanzierte Sozialversicherung legte der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er Jahren mit seiner Sozialgesetzgebung, die der im Zuge der Industrialisierung entstandenen sozialen Not der Arbeiterschaft begegnen sollte. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit wurde mit sozialstaatlichen Interventionen auf die entstehenden Härten durch die fortschreitende Industrialisierung, den Aufstieg des Kapitalismus, die Urbanisierung und das Bevölkerungswachstum reagiert.
Auf dem Weg zum digitalen Sozialstaat
Die Umsetzung der damals neuen Unterstützungsstrukturen ging Hand in Hand mit einer umfassenden Bürokratisierung. Es wurde sortiert, klassifiziert und standardisiert, um die öffentlichen Dienstleistungen auf breiter Basis erbringen zu können. Daher kann es heute angesichts der fortschreitenden Digitalisierung der vergangenen Jahrzehnte kaum überraschen: Nicht nur die Prozesse der Geschäftswelt, sondern auch jene des Sozialstaats erleben eine zunehmende Digitalisierung, um effektiver und effizienter abzulaufen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Sozialstaat von Anbeginn auf dem Einsatz diverser Technologien basierte. Immer schon waren Datenbanken und statistische Herangehensweisen erforderlich, um relevante Bedarfe der Bevölkerung festzustellen und Hilfsressourcen entsprechend zu verteilen. Auch Maßnahmen der Überwachung sind bereits lange untrennbar mit dem Sozialstaat verknüpft, als es seit jeher darum ging, Bürger in Anspruchsberechtigte und jene ohne Anspruch auf Sozialleistungen zu sortieren. Zweifellos aber stellen die heutigen digitalen Technologien einen vollständigen Umbruch dar – was wird aus dem Sozialstaat, wie wir ihn kennen?
DIA-Studie untersuchte erste Erfahrungen
Zunächst muss man differenzieren, denn Digitalisierung ist natürlich nicht gleich Digitalisierung – ihre Umsetzung in der Sozialverwaltung erfolgt stufenweise: Heute weitgehender Standard ist die einfache Informationsdarbietung (z. B. Zugang zu Informationen über die Internetpräsenz einer Behörde) und auch digitale Kommunikationsmöglichkeiten (z. B. per E-Mail) mit Behörden wird man in den meisten Fällen bereits vorfinden. Einen weiteren Schritt auf der Digitalisierungsleiter nach oben ist getan, wenn Transaktionen digital ablaufen: Soziale Leistungen werden dann ohne Medienbruch von der Antragstellung über die Einreichung von Unterlagen bis hin zur Bewilligung digital abgewickelt.
Eine weitere Stufe ist mit der Integration von künstlicher Intelligenz (KI) in die Verwaltungsprozesse erreicht. In diesem Fall werden Entscheidungen nicht mehr von menschlichen Behördenmitarbeitern, sondern automatisiert getroffen – oder zumindest werden Entscheidungen maschinell vorbereitet. Auf welche Weise KI die Sozialversicherung verändert, welche Einsatzfelder denkbar sind und welche Erfahrungen es bereits gibt, diesen Fragen ist das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA) in einer Studie nachgegangen.
Die zunehmende Integration von digitalen Technologien transformiert herkömmliche Sozialstaaten und wird gegenwärtig intensiv unter dem Schlagwort „Digital Welfare State“ (digitaler Sozialstaat) diskutiert. Insbesondere der durch Big Data und KI ermöglichte Einsatz automatisierter Entscheidungssysteme wirft wichtige Fragen auf, die einen Zielkonflikt zum Ausdruck bringen: Können mit Hilfe des Technologieeinsatzes Chancen genutzt werden, um durch Bürokratieabbau, Effizienzsteigerung und präzisere Leistungen Kosten einzusparen und zugleich die Qualität, Treffsicherheit und Personalisierung von Sozialleistungen durch datengetriebene Ansätze verbessern? Oder aber birgt die Automatisierung fundamentale Risiken für die soziale Gerechtigkeit?
Digitaler Sozialstaat – ein zweischneidiges Schwert?
Auf der positiven Seite eröffnen die datengestützten Herangehensweisen vielfältige Potenziale, um die administrativen Prozesse zu verschlanken und zu beschleunigen, Versicherte mit hochwertigen und personalisierten Leistungen zu unterstützen sowie evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Die automatisierte Durchführung von Routineaufgaben hilft, Kosten einzusparen. Durch die Entlastung von Fachkräften von repetitiven, aufwendigen und fehleranfälligen Arbeiten werden Kapazitäten für komplexere Aufgaben sowie individuelle Interaktionen mit Versicherten frei.
Die Erfahrung aus bereits in die Realität umgesetzten Projekten zeigt, dass KI auf diese Weise den Weg ebnet, einerseits dem steigenden Kostendruck im öffentlichen Bereich zu begegnen und andererseits näher an den Bürger heranzurücken. Zunehmend findet KI auch Anwendung, um Entscheidungen vorzubereiten, indem große Datenmengen analysiert und nach Mustern durchsucht werden. In vielen Fällen werden hierbei nach der Logik von Big Data mehr Daten im Vergleich zu den manuellen Prozessen hinzugezogen, um Entscheidungen auf eine breitere Basis zu stellen und dadurch insgesamt bessere Entscheidungen auf effizienterem Weg zu treffen.
Hohes Maß an Experimentierfreude
Relativ weit verbreitet ist der Einsatz von Chatbots, die die Interaktion mit Bürgern verbessern. Dabei greifen die KI-basierten Dialogsysteme auf – idealerweise – laufend aktualisierte Wissensdatenbanken zurück, um Nutzeranfragen zu beantworten oder bei der Informationssuche behilflich zu sein. Zur Unterstützung interner Prozesse setzt beispielsweise die deutsche Bundesagentur für Arbeit auf ein KI-basiertes System zur Klassifikation und Informationsextraktion von Studienbescheinigungen für die Familienkasse, um Antragsverfahren zu beschleunigen. Die zur Beantragung des Kindergelds zweimal jährlich vorzulegenden aktuellen Studienbescheinigungen des betreffenden Kindes wären ansonsten aufwendig manuell zu prüfen.
Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) nutzt KI etwa zur automatisierten Identifizierung von Unternehmen, die angesichts ihres Unfallgeschehens erhöhten Beratungsbedarf haben. KI erkennt Gefahrenlagen, um Versicherungsfälle erst gar nicht entstehen zu lassen. Dies sind nur einige Beispiele von sich bereits im Betrieb befindlichen Anwendungen. Insgesamt zeichnet sich der Bereich gegenwärtig durch ein hohes Maß an Experimentierfreude aus, um die Möglichkeiten und Grenzen der KI-Anwendung auszuloten.
KI-Entscheidungen in der Blackbox
Auf der negativen Seite darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass KI-gestützte Verfahren in der Sozialversicherung gravierende Gerechtigkeitsprobleme aufwerfen können, die imstande sind, die genannten Vorteile zunichte zu machen. Insbesondere ist es daher wichtig, nicht intendierte Effekte eines KI-Einsatzes zu antizipieren, die dem Sozialstaatsprinzip zuwiderlaufen könnten. So wiegt etwa gerade im Bereich des Sozialwesens der Vorwurf besonders schwer, algorithmische Systeme seien Blackboxes und entziehen als solche Betroffenen die Möglichkeit, Entscheidungen nachzuvollziehen.
Der von den Vereinten Nationen ernannte Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, Philip Alston, schätzte diese Gefahren als so schwerwiegend ein, dass er Ende 2019 in einem Bericht den Einsatz digitaler Technologie in der Sozialverwaltung mit scharfen Worten verurteilte und davor warnte, „wie ein Zombie in eine Sozialstaatsdystopie zu stolpern“. Die Verwaltung erhalte mit den Mitteln der Technik vollkommen neue Möglichkeiten der Kontrolle, die dem Schutz sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen entgegenstehen könnten. Kritiker monieren zudem, dass die Digitalisierung des Sozialstaats der Privatwirtschaft eine dominante Rolle in der Verwaltung zuschreibe, weil die Konzeption und oftmals sogar der Betrieb der betreffenden Systeme in der Hand von Unternehmen liegen.
Die gegenwärtige Debatte bringt ganz klar zum Ausdruck, dass der digitale Sozialstaat ein zweischneidiges Schwert ist: Algorithmisch gestützte Entscheidungen können dazu beitragen, Verwaltungshandeln im Bereich des Sozialwesens effizienter und bürgerfreundlicher zu gestalten. Werden sie aber unkritisch und vorschnell implementiert, besteht auch die Gefahr, dass Machtungleichgewichte verstärkt und die Autonomie des Einzelnen beschnitten werden.