Gründer von Startups picken sich häufig ein einzelnes Problem im Alltag oder Wirtschaftsleben heraus, für das es bislang keine einfache und zufriedenstellende Lösung gibt. Die Seasn App, entwickelt an der Goethe-Universität Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut SAFE, will Finanzbildung und Altersvorsorge in Deutschland neu denken.
Mit datengestützten Profilen, anonymem Zugang und einem spielerischen Einstieg verspricht die App, komplexe Finanzfragen für jeden greifbar zu machen. Das Konzept ist modern, praxisnah und gut durchdacht – doch reicht das aus, um ein echtes Umdenken bei der Altersvorsorge auszulösen? Statt Nutzer mit der üblichen Dateneingabe zu überfordern, bietet Seasn sogenannte Finanz-Zwillinge – realitätsnahe Vorlagen, die auf umfangreichen Forschungsdaten basieren. Nutzer wählen ein Profil aus, das ihrer Lebenslage ähnelt, und können direkt in Zukunftssimulationen einsteigen.
Wie entwickelt sich mein Einkommen bis zur Rente? Was kostet ein bestimmter Lebensstil? Was passiert bei Arbeitslosigkeit, Inflation oder einem Sabbatical? Die App bleibt dabei anonym, kostenlos und verzichtet auf Werbung oder Produktempfehlungen. Auch eigene Daten lassen sich bei Bedarf integrieren – per Konto-Verknüpfung, Upload von Renteninformationen oder automatischer Dokumentenerkennung via OCR.
Strukturelle Grenzen
So überzeugend der erste Eindruck ist, bleiben Zweifel an der langfristigen Wirkung, denn Seasn reiht sich in eine ganze Serie ambitionierter Digitalprojekte ein, die in den letzten Jahren wieder aufgegeben wurden – darunter Forget.Finance oder Finance.Baby. Sie alle wollten Menschen beim Vermögensaufbau begleiten, scheiterten aber meist an denselben Punkten: Die Themen sind zu komplex, das langfristige Engagement zu niedrig und die persönliche Komponente fehlt.
Finanzplanung erfordert Vertrauen, Kontinuität und oft auch emotionale Begleitung. Genau das kann eine App kaum leisten. Spielerische Simulationen motivieren kurzfristig, ersetzen aber keine individuelle Beratung. Ohne echte Beziehung, ohne Rückfragen und ohne sozialen Druck bleibt der Nutzungsimpuls oft flüchtig. Dass Finanz-Apps wie Seasn dringend nötig sind, steht dennoch außer Frage.
Finanzielle Allgemeinbildung ist in Deutschland schwach ausgeprägt, Altersarmut steigt und selbst grundlegende Absicherungen wie die Krankenversicherung sind nicht selbstverständlich – rund 61.000 Menschen sind ohne Schutz. Auch die Armutsgefährdung im Rentenalter liegt bei über 19 Prozent – mit besonders hoher Betroffenheit bei Frauen und Selbstständigen. Doch gerade weil die Problemlage so komplex ist, braucht es mehr als technische Lösungen. Eine App kann den Einstieg erleichtern, nicht aber dauerhaft begleiten.
Fazit: Stark für die Analyse, schwach für den Wandel
Seasn ist ein beeindruckendes Werkzeug zur Selbstreflexion. Es erlaubt Nutzerinnen und Nutzern, sich niederschwellig mit ihren Finanzen auseinanderzusetzen, Risiken sichtbar zu machen und erste Strategien zu testen. Doch es bleibt bei einer Momentaufnahme. Für echten finanziellen Wandel braucht es nicht nur mehr Aufklärung, sondern auch persönliche Beratung, konkrete Handlungsanleitungen und eine emotionale Anbindung – all das kann die App allein nicht leisten.