Wie in anderen Lebensbereichen auch, verbreiten sich derzeit KI-basierte Anwendungen in der Sozialversicherung und eröffnen neue Wege zu schnelleren und besseren Entscheidungen.
Da stellt sich die Frage: Was leistet KI in der sozialen Sicherung? Doch zuerst ein Blick zurück. Staaten wie Maschinen steuern zu wollen, ist keine ganz neue Idee. Nicht zufällig hat es Tradition, von Staatsmaschine und Staatsapparat zu sprechen, um Vorstellungen eines mechanischen Räderwerks zu wecken, das hocheffizient und reibungslos funktioniert. Die Maschine steht für das Bild eines aus vielen, kleinen Teilen zusammengesetzten Ganzen. Einem Uhrwerk gleich sitzen die Teilchen an ihrer jeweiligen Stelle, um perfekt ineinanderzugreifen und – als Staatsmaschine – das allgemeine Wohl zu produzieren.
In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck „Staatsmaschine“ in Chile denn auch wörtlich genommen. Mit dem Projekt Cybersyn wurde der großangelegte Versuch unternommen, die verstaatlichte Industrie nach kybernetischen Prinzipien zu steuern. Mit Hilfe des auf dem Gebiet der Managementkybernetik bekannten Beraters Stafford Beer konstruierte die Regierung Salvador Allendes ein System, um die Zentralverwaltungswirtschaft computerbasiert und in Echtzeit effektiv zu koordinieren. In einer Kommandozentrale sollte die Regierung Zugang zu Unternehmensdaten haben, die mittels computerisierter Tools aufbereitet werden konnten, um Prognosen zu erstellen und insgesamt die Entscheidungsfindung zu optimieren.
Ein verfrühtes Experiment
Es war zwar nicht mehr als ein – wenn auch revolutionäres – Projekt, denn Cybersyn war nur von kurzer Dauer, doch lassen sich Parallelen zu aktuellen Fragen ziehen, beinhaltet Cybersyn doch Grundzüge dessen, was wir heute Big Data, Algorithmensteuerung und Künstliche Intelligenz (KI) nennen.
Der moderne Sozialstaat heutiger Prägung ist gar nicht anders denkbar als auf umfangreicher Computerisierung basierend. Sämtlichen Sozialleistungen gehen Entscheidungen voraus, die wiederum nur getroffen werden können, weil zuvor Daten gesammelt, vorgehalten, verarbeitet und mit anderen Daten verknüpft wurden, um daraus zu Informationen zu gelangen, die als Entscheidungsbasis dienen können. Dabei lässt sich feststellen, dass Digitalisierung und Computerisierung einerseits Werkzeuge bereitstellten, um mit der Datenflut umzugehen, zugleich aber auch Anlass waren, dass immer höhere Anforderungen an den Sozialstaat gestellt wurden und dieser stets komplexer wurde.
Studie zeigt Praxisbeispiele
Angesichts der heute enormen Masse an verfügbaren Daten sowie der gestiegenen Komplexität des Sozialstaats kann es kaum überraschen, dass KI auch im Bereich der sozialen Sicherung Einzug hält. Die Nutzung dieser Technologie, die in vielen unserer Lebensbereiche bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist und – bemerkt oder unbemerkt – ihren Dienst tut, verspricht auch für die Bewältigung der bürokratischen Aufgaben des Sozialstaats passende Antworten zu liefern.
Eine vom Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA) beauftragte Studie geht grundsätzlichen Möglichkeiten nach, KI im Bereich der sozialen Sicherung zu nutzen, um vor diesem Hintergrund konkrete Praxisbeispiele zu beleuchten. Es sind die vielfältigsten Anwendungen von KI entlang des Prozesses der Erbringung von Sozialleistungen denkbar. Angefangen bei der Datenerfassung über Anspruchsprüfung und Antragsmanagement bis hin zur Leistungserbringung bieten sich große Chancen auf Effizienzgewinne durch den KI-Einsatz. Auch im Bereich der übergreifenden Aufgaben von Information und Kommunikation sowie Monitoring und Qualitätsmanagement kann KI vielversprechend eingesetzt werden. Viele Sozialversicherungsorganisationen machen bereits Gebrauch von den neuen Möglichkeiten und setzen KI produktiv ein oder loten in Projekten Optionen aus.
Chatbots aus der Coronazeit haben sich etabliert
Für eine ganze Reihe von Ländern gab die Coronapandemie den Anstoß, Chatbots einzusetzen, um die überwältigende Zahl von Anfragen zu beantworten. Viele davon sind weiterhin im Einsatz, werden fortwährend weiterentwickelt und sorgen dafür, dass Informations- und Kommunikationsmaßnahmen zielgenauer und personalisierter gestaltet werden können. Mit Hilfe von Chatbots ist es möglich, automatisiert auf individuelle Informationsbelange einzugehen und rund um die Uhr qualitativ hochwertige Dienstleistungen bereitzustellen. Die durch Automatisierung von Routineanfragen freiwerdenden Ressourcen können sich individueller um Belange von Anfragern kümmern.
Wird KI zur Unterstützung der internen Prozesse eingesetzt, steht zumeist das Ziel im Zentrum, Arbeitsentlastungen durch Effizienzsteigerungen zu erzielen, um Kapazitäten von Mitarbeitern für andere Aufgaben freizumachen bzw. Kapazitäten abzubauen. Außerdem geht es darum, Vorgänge zu beschleunigen, um die Kundenzufriedenheit zu erhöhen.
KI findet Unstimmigkeiten in den Beitragsdaten
Beispielsweise setzt in Deutschland die Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) seit 2021 eine KI-Lösung namens RehaPlus ein, die Mitarbeiter bei der Beurteilung von Reha-Fällen unterstützt, um eine optimale Heilbehandlung zu gewährleisten. Bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) soll der Einsatz der KI-gestützten Software KIRA (Künstliche Intelligenz für Risikoorientierte Arbeitgeberprüfung) dafür sorgen, Unstimmigkeiten in den Beitragsdaten der Unternehmen leichter aufzudecken. In Österreich setzt die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), Trägerin der Pflichtkrankenversicherung in Österreich, auf die automatisierte Bearbeitung sogenannter Wahlarztrechnungen, um die Wartezeit der Rückerstattung an die Patienten zu verkürzen.
In Estland, dem Vorreiter der Digitalisierung, nutzt die Arbeitslosenversicherung ein Tool namens OTT, um die zeitaufwendige Erstellung von individuellen Strategien zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Hierbei werden die Profile Arbeitsuchender analysiert sowie Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten berücksichtigt, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, einen neuen Job zu finden und darauf basierend die Vermittlungsbemühungen zu priorisieren.
Goldener Mittelweg zwischen Mensch und Maschine
Die Einsatzmöglichkeiten von KI sind vielfältig und die positiven Auswirkungen im Hinblick auf Ressourceneinsparung und Effizienzgewinn zumeist enorm. Steuern wir also auf eine vollautomatisierte Sozialverwaltung zu? Allem Anschein nach ist dies nicht zu erwarten. In den allermeisten Fällen betonen die Verantwortlichen, eine sinnvolle Aufgabenteilung zwischen Mensch und Maschine anzustreben. Im Vordergrund der Projekte steht die KI-basierte Vorbereitung von Entscheidungen, die danach immer noch von Menschen zu treffen sind. Der Mehrwert der KI-gestützten Systeme liegt vor allem darin, große Datenmengen zu sichten und Muster zu erkennen, um darauf aufbauend Mitarbeitern eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Insgesamt resultiert hieraus eine höhere Entscheidungsqualität, weil im Vergleich zu manuellen Prozessen mehr Daten in die Informationsbasis einbezogen werden.
Gerade angesichts klaffender Budgetlöcher, Personalmangels in der Verwaltung und immer weiter steigender Wartezeiten bei Sozialleistungen klingen die Chancen einer KI-basierten Sozialverwaltung verlockend. Doch spricht einiges dafür, die KI nicht vollständig von der Leine zu lassen. Ein blinder Automatismus ist im öffentlichen Bereich allein schon aus Gründen der Zurechnung von Entscheidungen und Verantwortlichkeiten nicht zu begrüßen. So mächtig auch immer KI ist und künftig sein wird, das letzte Wort sollte der Mensch haben.