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Das Schreckgespenst Stagflation geht um

Manchmal ist die Vergangenheit aktueller, als einem lieb sein kann. Es ist fast 50 Jahre her, da löste ein geopolitischer Konflikt die erste große Wirtschaftskrise in der noch jungen BRD aus.

Völlig unerwartet überfielen arabische Truppen 1973 Israel – an Jom Kippur, dem heiligsten jüdischen Feiertag. Allerdings hatte der lokale Konflikt wie so oft auch eine globale Dimension. Die arabischen Länder verhängten ein Ölembargo, das die USA und Europa empfindlich zu spüren bekamen. Die Folgen waren wirtschaftlich verheerend. Der Ölpreis verdoppelte sich binnen kürzester Zeit. Besonders energieabhängige Unternehmen fuhren die Produktion zurück. In der Folge kämpften fast alle westlichen Industriestaaten angesichts erhöhter Rohstoffpreise und stagnierenden Welthandels mit konjunkturellen und strukturellen Problemen. Fast alle durchliefen Phasen der Stagflation, in denen die Wirtschaft nicht mehr zulegt (Stagnation), die Preise steigen (Inflation) und die Arbeitslosenquote sich erhöht. Die Unternehmen gaben ihre höheren Energiekosten an die Verbraucher weiter. Die Gewerkschaften setzten als Ausgleich höhere Löhne durch. Das wiederum erhöhte die Kosten für die Unternehmen und eine Lohn-Preis-Spirale wie aus dem Lehrbuch kam in Gang.

Das Phänomen der Stagflation ist wirtschaftspolitisch schwer zu bekämpfen. Es gibt keine gängigen Rezepte dafür. Im Gegensatz zu einer Rezession ist eine Stagflation kein natürlicher Bestandteil des Konjunkturzyklus. Es ist äußerst selten, dass eine hohe Inflation bei stagnierender Wirtschaftsleistung auftritt. Normalerweise benötigt Inflation eine boomende Wirtschaft als Motor. In der Ökonomie ist die Stagflation gefürchtet. Dann wird meist eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik empfohlen. Die Unternehmen sollen auf der Kostenseite entlastet werden, damit sie weiter produzieren und die Preissteigerungen aufgefangen werden können. Zugleich versuchen die Notenbanken durch Zinserhöhungen die Nachfrage zu dämpfen und zu einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht zurückzukehren. Allerdings haben Zinserhöhungen auch einen dämpfenden Einfluss auf die Konjunktur und können in einer Stagflation eine Wirtschaftskrise weiter verschärfen.

Rezession bei steigenden Preisen

„Erst hat man kein Glück, dann kommt auch noch Pech dazu“, dieses Zitat vom ehemaligen FC-Bayern-Spieler Jürgen Wegmann beschreibt das Dilemma der Stagflation. Der allgemeine Wohlstand wird gleich von zwei Seiten angegriffen. Einerseits verliert das Geld durch die hohe Inflation an Wert, für die meisten Produkte und Dienstleistungen muss mehr bezahlt werden. Andererseits wächst die Wirtschaftsleistung aufgrund der Stagnation nicht. Daher können Unternehmen weniger neue Stellen schaffen, bestehende Arbeitsplätze fallen weg. Die höhere Arbeitslosigkeit lässt auch die staatlichen Transferleistungen ansteigen. Eine Stagflation ist eine Rezession bei steigenden Preisen. Sie wird oft durch einen Angebotsschock ausgelöst. Derzeit gibt es gleich zwei Angebotsschocks. Zum einen sind durch die Corona-Pandemie immer noch Lieferketten gestört. Viele Produkte sind nicht oder nur schwer zu bekommen. Die Unternehmen können noch nicht wie gewohnt produzieren. Das Angebot ist also geringer als die Nachfrage. Der zweite Schock ist der Krieg gegen die Ukraine. Dieser hat einen Energiepreisschock ausgelöst.

Lohn-Preis-Spirale kommt in Bewegung

Die Angst vor der Lohn-Preis-Spirale ist derzeit allgegenwärtig. Laut einer aktuellen Konjunkturumfrage des Familienunternehmer-Verbands bezeichnen 89 Prozent der knapp 800 befragten deutschen Unternehmen diese Gefahr als „groß“ oder „sehr groß“. So stehen die Gewerkschaften in den Startlöchern. Bei der ersten Ölkrise in den 70er Jahren war die Lohn-Preis-Spirale der Auslöser für eine Stagflation und bescherte der jungen Bundesrepublik die erste Wirtschaftskrise. Löhne und Preisniveau treiben sich gegenseitig voran und heizen so die Inflation immer weiter an. Die gestiegenen Löhne führen einerseits zu steigenden Produktionskosten, andererseits zu einer wachsenden Nachfrage durch die höhere Kaufkraft. Die gestiegenen Produktionskosten werden an den Kunden in Form von Preisanhebungen am Produkt weitergegeben. Das führt wiederum zu weiteren Forderungen, die Löhne zu erhöhen und somit an das Preisniveau anzupassen. Die fortwährenden Lohn- und Preissteigerungen lösen eine Art Kettenreaktion aus, in der Lohn und Preis im Wechsel immer weiter ansteigen.

Hat die EZB die Inflationsdynamik unterschätzt?

Mittlerweile ist auch die EZB besorgt. Ging man noch im Herbst letzten Jahres von einem temporären Inflationsrisiko aus, ist diese Einschätzung derzeit nicht mehr zu halten. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat nun eine erste Leitzinserhöhung für Juli in Aussicht gestellt. Weitere sollen folgen. Bei der ersten Ölpreiskrise 1973 waren die Zentralbanken unvorbereitet und griffen erst sehr spät ein. Einige Ökonomen sehen derzeit Parallelen und vermuten das die EZB die Inflationsdynamik unterschätzt hat und sie vermutlich nicht mehr rechtzeitig in den Griff bekommt. Verstärkt wird das Problem, dass durch die hohen Staatsverschuldungen zinstechnisch wenig Spielraum bleibt, um wirklich gegenzusteuern.

Zeitenwende auch im Depot

Anleger allerdings haben Möglichkeiten gegenzusteuern und sollten ihre Depots entsprechend anpassen. Die nahe Zukunft wird aus Anlegersicht herausfordernd. Ein aktives Management der Depots wird für die nächsten Jahre wieder wichtiger. Allerdings werden es rein passive Investments in diesem Umfeld schwerer haben. Stagflation begünstigt tendenziell defensive Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen für den Alltag der Menschen unverzichtbar sind. Unabhängig davon, ob die Inflation hoch ist oder nicht, müssen die Menschen beispielsweise immer noch Lebensmittel kaufen und ihre Stromrechnungen und Mieten bezahlen. Auch Aktien aus dem Gesundheitssektor stehen bei vielen Analysten derzeit hoch im Kurs. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach mit Beginn des Ukraine-Krieges von einer Zeitenwende. Mit dieser Aussage hat er vermutlich nicht übertrieben. Die Welt wird nach diesem Konflikt eine andere sein. Die Zeiten ändern sich auch an den Börsen, aber gute Unternehmen zu niedrigen Bewertungen bleiben auch in Zukunft die beste Anlage.

Gastautor Markus Richert ist CFP® und Seniorberater Vermögensverwaltung bei der Portfolio Concept Vermögensmanagement GmbH in Köln. Weitere Beiträge von ihm und anderen Vermögensverwaltern finden Sie auf www.v-check.de.