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Wirecard oder „wat fott es, es fott“

Auf einmal ging es dann doch ganz schnell. Fast zehn Milliarden Euro Börsenwert sind futsch. Nicht mehr da, genauso wie die 1,9 Milliarden Euro, die Wirecard angeblich auf philippinischen Konten deponiert hatte. Wobei letztere mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals existiert haben.

Das in Aktien von Wirecard investierte Geld ist weg. Es hat, anders als in einem alten Börsenspruch behauptet, auch nicht jemand anders. Wirecard ist vermutlich einer der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das erste deutsche Unternehmen, das trotz Insolvenz immer noch im Dax gelistet ist.

Im September 2018 feiert Wirecard-Chef Markus Braun seinen größten Triumph. Die Commerzbank fliegt nach jahrzehntelanger Präsenz aus dem wichtigsten deutschen Börsenindex. Wirecard ersetzt das Bankhaus. Die Aktie erreichte am 4. September 2018 mit 199 Euro ihren höchsten Stand. Nach dem 18. Juni war der Kurs zwischenzeitlich auf knapp einen Euro gefallen.

Eine jahrelange deutsche Internet-Erfolgsgeschichte fand letztlich ein unrühmliches Ende. Der Schaden für den Finanzplatz Deutschland ist gewaltig, das kollektive Versagen der Aufsicht und der Wirtschaftsprüfer wird vermutlich noch lange danach die Gerichte beschäftigen. Beobachter gehen mittlerweile davon aus, dass die Erfolgsgeschichte des Unternehmens weitgehend auf Lügen basierte und mutmaßlich ein gigantischer Betrug war.

Anfangs kannte die Aktie nur eine Richtung

Die Wirecard AG kannte viele Jahre nur eine Richtung: nach oben. Wie kein anderes Unternehmen profitierte die Aktiengesellschaft aus Aschheim bei München vom Online-Shopping-Boom. Das Kundenportfolio, bestehend aus über 20.000 Kunden aus unterschiedlichen Branchen, enthielt renommierte Namen wie den Kreditkartenanbieter Visa, die Fluggesellschaft KLM oder die Telefongesellschaft Orange. Das Geschäftsmodell war ebenso einfach wie genial. Wirecard kümmert sich um die technische Abwicklung von Zahlungsvorgängen. Anstatt, dass Händler für die Zahlung per Kreditkarte, Lastschrift oder Paypal mit jedem einzelnen Anbieter Verträge abschließen müssen, bündelt Wirecard diesen Vorgang mit einem weltweiten System. Bei jedem Kauf erhält das Unternehmen eine Provision. Für viele Analysten ist das Marktpotential noch lange nicht ausgereizt. Das Unternehmen stand, was den Wachstumszyklus angeht, noch ganz am Anfang.

Aus dem Liebling wurde ein Spekulationsobjekt

Ein Hauch von Silicon Valley lullte die deutschen Anleger ein. Eigentlich gelten die Deutschen als sehr zurückhaltend und skeptisch, was den bargeldlosen Zahlungsverkehr angeht. Das hielt sie aber nicht davon ab, bei einem der größten Bezahldienstleister kräftig zu investieren. Wirecard avancierte zur großen Liebe der deutschen Anleger. Dabei sind die Deutschen nicht gerade als Aktienfans bekannt. Wen das Börsenfieber aber einmal gepackt hatte, der war mit Herzblut und viel Geld dabei. Die Liebe erkaltete auch nicht, als erste Bilanzfälschungsvorwürfe der Financial Times zu einer Glaubwürdigkeitskrise führten. Zwar konnten die Vorwürfe über Monate hinweg weder bestätigt noch widerlegt werden, allerdings stiegen zunehmend Hedgefonds bei Wirecard ein. Spätestens jetzt war klar: Diese Aktie ist nichts mehr für den kleinen Mann. Zu viel Risiko, zu viel Spekulation. So mancher, der zu hohen Kursen eingestiegen war, wollte seinen Traum jedoch nicht aufgeben. Es wurde bei niedrigen Kursen nachgekauft. Der verzweifelte Versuch, das Investment zu verbilligen.

Auch gestandene Fondsmanager verhoben sich

Eine uralte Weisheit der Dakota-Indianer besagt: „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab.“ Der Todeskampf der Wirecard-Aktie dauerte viele Monate. Seit ihrem Allzeithoch im Jahr 2018 befand sich die Aktie in einem Abwärtstrend. Gewinner waren in dieser Zeit andere Aktien. Diese konnten jedoch nicht das Herz der deutschen Anleger erobern. Der Traum von einem Investment in einen neuen Tech-Giganten durfte nicht sterben. Gier vernebelt den Blick für unangenehme Fakten, sie macht uns Menschen blind für Risiken. Viele Anleger suchen verzweifelt nach dem nächsten Apple oder dem nächsten Microsoft. Wirecard war die Hoffnung vieler deutscher Investoren. Schließlich notierte das Unternehmen im Dax und die Wachstumsstory versprach ungeahnte Möglichkeiten. Zugegeben, nicht nur Privatanleger fielen darauf rein. Auch gestandene Fondsmanager großer Gesellschaften haben sich mit ihrem Engagement kräftig verhoben, Warnsignale stoisch ignoriert und vermutlich ihren Jahresbonus verspielt. Allerdings investieren Fondsmanager selten ihr eigenes Geld. Für manchen Privatanleger bedeutet die Insolvenz des Unternehmens den schmerzhaften Totalverlust der Anlage.

Die Gefahr des „Home Bias“

Es bleibt zu hoffen, dass der Schaden für die Aktienkultur in Deutschland nicht allzu groß ist. Die Berufspessimisten, die immer schon wussten, dass Aktien Teufelszeug sind, betreten wieder die Bühne. Auch wenn die gigantische Kapitalvernichtung durch den Bilanzskandal Sparer nicht gerade für eine Investition in Aktien ermutigt, lohnt es sich nach wie vor, langfristig auf Aktien zu setzen. Wer in Zeiten ultraniedriger Zinsen noch eine Rendite auf sein Erspartes erzielen will, besitzt wenig Alternativen. Anleger sollten sich jedoch davon lösen, nur in den Heimatmarkt zu investieren. „Home Bias“ nennen Wissenschaftler dieses Phänomen, das in vielen Ländern vorkommt. Für deutsche Anleger sollte der DAX nicht das Maß aller Dinge sein. Abgesehen vom Softwareunternehmen SAP besteht das wichtigste deutsche Börsenbarometer überwiegend aus klassischen Industriewerten und wenig innovativen Finanzunternehmen.

Verweis aufs „Kölsche Grundgesetz“

Der Kauf einer Aktie ist heute so einfach wie noch nie. Online-Broker buhlen mit niedrigen Kosten und permanenter Verfügbarkeit um das Geld der Kunden. Die Risiken allerdings sollte niemand unterschätzen. Vor allem sollten Anleger jetzt nicht der Versuchung erliegen, das Spiel der Profi-Zocker mitzuspielen. Aktuell ist Wirecard eine der meist gehandelten Aktien an der deutschen Börse. Zwischenzeitlich gewann die Aktie fast 200 Prozent dazu. Allerdings sind solche Kursbewegungen auf niedrigem Niveau gefährlich. Keiner sollte der Illusion verfallen, dass die Verluste wieder aufzuholen sind. Artikel vier des „Kölschen Grundgesetzes“, einer Zusammenstellung elf mundartlicher Redensarten aus dem Rheinland, lautet: „Wat fott es, es fott“ (Was weg ist, ist weg). Es hilft nicht, verpassten Chancen hinterher zu trauern. Anleger sollten einen Schlussstrich ziehen und sich neuen Chancen zuwenden. Die finden sie aber sicherlich nicht bei Wirecard.


Gastautor Markus Richert ist CFP® und Seniorberater Vermögensverwaltung bei der Portfolio Concept Vermögensmanagement GmbH in Köln.

Weitere Beiträge von ihm und anderen Vermögensverwaltern finden Sie auf www.v-check.de.