EIOPA: Bilanzielles Paradoxon
Über die Holistische Bilanz, die nach dem Willen der Europäischen Versicherungs- und Pensionsaufsichtsbehörde EIOPA künftig ein zentrales Element in der geplanten neuen Regulierung von Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge sein soll, ist seit Monaten ein heftiger Disput im Gange.
Er dreht sich vor allem um die Frage, ob ein solches Instrument für die betriebliche Altersversorgung tatsächlich taugt oder zu ungünstigen Nebenwirkungen führt, die einer Verbreitung der Betriebsrente gar im Wege stünden.
Wesentliche Fragen noch unbeantwortet
„Die Holistische Bilanz ist keine Bilanz im herkömmlichen Sinne. Sie ist vor allem ein Aufsichtsinstrument mit einer Gegenüberstellung von Aktiv- und Passivpositionen, um sowohl Sicherheiten als auch Gefahren zu erkennen. Sie lässt sich also nicht ohne weiteres mit einer Handels- oder Steuerbilanz vergleichen, bei der beide Seiten aufgehen müssen und das Eigenkapital den Differenzposten bildet“, stellt Dr. Reiner Schwinger, Managing Director von Towers Watson Deutschland, erst einmal klar.
Noch fehlen für wesentliche Punkte überzeugende Lösungen. Zwei Stichworte genügen: Arbeitgeberunterstützung und Pensionssicherungseinrichtung. Diese beiden Posten gehören nämlich in den „Holistic Balance Sheet“ (HBS), bei dem es sich im Grunde um eine erweiterte Solvenzbilanz für Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge handelt. Das Kardinalproblem dabei: Der HBS ist kein eigenständiges, maßgeschneidertes Konzept für die bAV, sondern versucht vielmehr, die neuen Eigenkapitalanforderungen von Solvency II für die Versicherungswirtschaft auf die Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung zu übertragen. Zwar leisteten EU-Kommission und Eiopa schon mehrere Schwüre, dass die holistische Bilanz die Besonderheiten der betrieblichen Altersvorsorge in angemessener Weise berücksichtigt, aber gerade das ziehen bAV-Experten immer wieder in Zweifel.
Testbewertung mit 18 verschiedenen Varianten
Neben der Klarstellung der Haupteigenschaft der HBS als Aufsichtsinstrument habe Eiopa leider auch andere zentrale Punkte erst nachträglich erläutert, bedauert Alfred-E. Gohdes, Chefaktuar (bAV) von Towers Watson Deutschland. „Außerdem wäre es hilfreich gewesen, wenn Eiopa von vornherein das Modell insgesamt erklärt hätte. So wurden für Testbewertungen zum Ende des Jahres 2012 insgesamt 18 verschiedene Varianten der holistischen Bilanz für den Stresstest durchgerechnet. In der einen ist die betrachtete Einrichtung hoffnungslos unterdeckt, in der anderen hingegen schneidet sie einigermaßen ordentlich ab“, stellt Gohdes fest.
Schwinger schließt sich dieser Kritik an: Bei den 18 verschiedenen holistischen Bilanzen, die in der jüngsten QIS-Studie „durchprobiert“ werden, kommt einmal der PSV zum Ansatz, ein anderes Mal dagegen nicht, in der einen Bilanz werden die Verpflichtungen mit einem „sicheren“ Zins berechnet, in einer anderen wiederum nicht. „Eine davon kommt später vielleicht tatsächlich zum Einsatz oder möglicherweise noch eine ganz andere“, so Reiner Schwinger. Heute wisse man noch nicht einmal ganz genau, ob Arbeitgeberhaftung und PSV, beides zentrale Elemente in der deutschen bAV, Eingang in die holistische Bilanz finden. Die deutsche Wirtschaft plädiert energisch dafür, aber im Konzert der europäischen Konsensfindung treten nur drei oder vier Länder mit dieser Forderung an. Die anderen Länder sehen den Veränderungen viel gelassener entgegen, weil sie entweder wenige Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung haben oder diese ausschließlich über Versicherungen abdecken.
Wie misst man die Besonderheiten der bAV?
Mit der Quantifizierung der neuen Vermögenswerte, die durch die Spezifika der betrieblichen Altersversorgung ins Spiel kommen, wird das Dilemma aber noch viel größer. „Wie misst man die Besonderheiten der bAV?“, wirft Schwinger eine nicht zu unterschätzende Frage auf. Er spitzt sie weiter zu: „Kann man sich überhaupt den Fall vorstellen, dass der PSV nicht mehr zu einer Leistung in der Lage ist? Immerhin steht hinter dem PSV die gesamte deutsche Wirtschaft.“
So taucht eine ganze Reihe von Fragen auf, die noch einer endgültigen Klärung bedürfen: Mit welcher Bilanzposition wird die Einstandspflicht des Arbeitgebers in der HBS adäquat abgebildet? Wie viel „wert“ ist die Mitgliedschaft in einer Pensionssicherungseinrichtung? „Für die Bewertung der Arbeitgeberhaftung gibt es unterschiedliche Methoden. Eiopa hat für die aktuelle QIS die derzeitige Profitabilität des Unternehmens und das Eigenkapital herangezogen. Darauf wird dann ein willkürlich bestimmter Abschlag vorgenommen. Das ist aber nur eine Methode. Es sind durchaus andere denkbar“, erläutert Alfred-E. Gohdes.
Erhebliche Spielräume bei der Bewertung
Eine ausgewogene und belastbare Einschätzung der Ertragskraft des Trägerunternehmens sowie die fundierte Bewertung der Leistungen des Pensionssicherungsvereins laufe auf komplizierte Bewertungsverfahren hinaus, wodurch die holistische Bilanz zu einem enorm aufwändigen und mit erheblichen Bewertungsspielräumen ausgestatteten Verfahren mutiere. Für den PSV schlägt Reiner Schwinger vor, ihn als eine Art Ausgleichsposten, der immer mögliche Differenzen auffängt, in die holistische Bilanz aufzunehmen.
Blanko-Scheck für jede Unterdeckung?
Abgesehen davon, dass noch große Unklarheiten bestehen und das Tor für willkürliche Annahmen sperrangelweit offen steht, ist das Problem noch viel größer: Ab wann sollen die bAV-typischen Vermögenswerte eigentlich in der Bilanz berücksichtigt werden? Das aus Solvency II übertragene Prinzip beruht auf einem Vergleich des Eigenkapitals zu Marktwerten vor und nach der Verschlechterung der Risiken, die mit einem Stresstest simuliert werden. Da die Einstandspflicht des Arbeitgebers und die Mitgliedschaft in der Pensionssicherungseinrichtung bereits vor dem Stresstest existieren, taucht die Frage auf, ob die ihnen zuzuordnenden Bilanzpositionen bereits in der ungestressten Bilanz angesetzt werden können. Das läuft nach Meinung einiger bAV-Experten allerdings auf eine Art „Blanko-Scheck“ für jeden Fall einer Unterdeckung hinaus.
Neue Belastungen durch die Hintertür
Eine ähnlich Frage trat im Zuge der jüngsten QIS ebenfalls auf: Wann werden die Sanierungsklauseln angesetzt? Die einzelnen Teilnehmer der QIS-Studie gingen dabei unterschiedlich vor. Gohdes macht die Problematik der verschiedenen holistischen Bilanzen an einem Ergebnis der Studie fest: „Wir haben beim Ansatz der Leistungen bis zu 100 Prozent Unterschied festgestellt, je nachdem wie vorgegangen wurde.“
Zugleich kann die HBS für die Trägerunternehmen eine unangenehme Nebenwirkung auslösen und den Trend zur externen Fundierung von Pensionsverpflichtungen wieder umkehren. Wenn plötzlich mehr Kapital für Pensionskassen oder Pensionsfonds aufgewandt werden muss, werden sich viele Unternehmen nach dem Sinn der Auslagerung fragen. Über die holistische Bilanz kämen neue und weitgehend unnötige Belastungen durch die Hintertür wieder in die Bilanz des Unternehmens und das ursprüngliche Ziel wäre konterkariert.
Reduzierung künftiger Zusagen droht
„Für viele gibt es aber keinen Weg zurück. Wenn ein Unternehmen erst einmal eine Pensionskasse mit acht Milliarden Euro hat und nun plötzlich sieben Milliarden dafür aufbringen soll, dann ist es so gut wie unmöglich, die Mittel aus der Pensionskasse wieder herauszuholen. Am Ende läuft es auf die Reduzierung der zukünftigen Zusagen hinaus“, skizziert Gohdes ein verhängnisvolles Extrem-Szenario. Die holistische Bilanz könne in seiner derzeitig angedachten Form zudem dazu führen, dass wieder stärker auf die Innenfinanzierung gesetzt wird, fügt Schwinger hinzu.
Diskussion führt geradewegs in eine Zwickmühle
Auch die Diskussion darüber, welchen Wert die Subsidärhaftung des Arbeitgebers in der Bilanz des Trägerunternehmens bekommen soll, führt in eine Zwickmühle. Aus wirtschaftlicher Sicht handelt es sich bei der Arbeitgeberhaftung um eine pauschale Zusage. Wenn alle Stränge reißen, muss der Arbeitgeber die zugesagten Leistungen übernehmen, zu denen die Einrichtung der betrieblichen Altersversorgung nicht mehr in der Lage ist. Unter diesem Blickwinkel entwickelt sich der neue Vermögensgegenstand „Arbeitgeberhaftung“ zu einer Art Auffanggröße, die exakt die Differenz ausmacht, um die die Anforderungen ans Eigenkapital nach den Solvency II-Regeln steigen.
Gleiche Sicherheit bei höheren Kosten
Das aber führt bei konsequentem Weiterdenken zu einem Paradoxon. Existiert tatsächlich eine solche Auffangfunktion, dann entspricht das Sicherheitsniveau mit der holistischen Bilanz exakt dem, wie es ohne HBS schon besteht. Die tatsächlich vorhandenen Sicherheitsmechanismen verändern sich nämlich unter diesen Umständen nicht. Sie werden nun lediglich erkennbar ausgewiesen und konzeptionell einheitlich beziffert. Das hat Eiopa immerhin als ein Ziel in der Konsultation zur neuen Pensionsfondsrichtlinie angeführt. So ändert sich zwar nichts an der Sicherheit für die späteren Rentenempfänger, aber mit dem HBS steigen die Kosten für ein Sicherheitsniveau, das ohnehin schon vorhanden war.
Kein Eingriff in das nationale Bilanzierungsrecht
Towers Watson hat einen Alternativvorschlag entwickelt und schon im Juni 2012 in einem Brief an die EU-Kommission formuliert. Danach sind die zusätzlichen Sicherungseinrichtungen der bAV in Form eines Ausgleichspostens zwingend zu berücksichtigen. Aufgrund der Güte der zusätzlichen Sicherungseinrichtungen ist dabei nach Auffassung des Consulting-Unternehmens eine explizite Quantifizierung zumeist gar nicht erforderlich. Mit diesem einfacheren und flexibleren Ansatz würde nicht in das nationale Bilanzierungsrecht eingegriffen. Vielmehr sollte – wie auch von der Kommission vorgeschlagen – die holistische Bilanz lediglich regulatorischen Zwecken dienen.
Nach diesem Fahrplan (Quelle: Gohdes, Towers Watson) wird die Tätigkeit von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung in Europa neu reguliert. Wann dieser Prozess abgeschlossen sein wird und mit welchem Ergebnis, darüber herrscht bislang noch keine völlige Klarheit.
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